Der Zauberlehrling und sein Personenschützer
Der neue Stuttgarter Tatort „Scherbenhaufen“ lebt vom Kontrast zwischen Wirtschaftsromantik und Turbokapitalismus. Besonders die Hauptfigur begeistert.
Ein Keramikfabrikant und sein Chauffeur, durchs Fadenkreuz gesehen: unschlüssig wechselt das Fadenkreuz zwischen den beiden hin und her. Dann fallen Schüsse; es trifft den Fahrer. Schnitt. Kommissar Lannert äussert den Verdacht, dass der Anschlag dem Fabrikanten gegolten hat. Noch ein Schnitt. Lannert geht zur Witwe des Fahrers, um ihr die schlimme Nachricht zu bringen. Sie berichtet, dass in der Industriellenfamilie nur so beschissen und intrigiert worden sei. Noch nicht einmal eine Lebensversicherung habe ihr toter Mann gehabt, sagt sie in einem Ton, der offenlässt, ob damit Bedauern angesichts der finanziellen Uneinträglichkeit des vorzeitigen Ablebens zum Ausdruck gebracht werden soll, oder ob sie sich von der Liste der Verdächtigen streichen will.
Kommissar Bootz wird als verdeckter Ermittler in die Industriellenfamilie eingeschleust. Er gibt sich als Fahrer und Personenschützer aus. In einem Akt präventiven Batu-Ersatzes studieren Lannert und Bootz seine Tarnung ein, wobei es mal wieder so richtig stallwarm abstrahlt von den beiden. Zum Glück ist die Szene bald um: Solche Undercover-Einstudier-Elemente sollte man definitiv schon aus Pietätsgründen bis zum letzten Hamburger Tatort Cenk Batu überlassen.
In der Industriellenfamilie sind alle verdächtig – die Sportschützinnen-Mutter ebenso wie die Söhne, deren einzige Gemeinsamkeit der Besitz eines Waffenscheins ist. Bieder, wirtschaftsromantisch und korrekt bis zur Unkenntlichkeit der Ältere, der den Familienbetrieb mit Luxuskeramik auf Erfolg trimmen will. Hip und lässig der Jüngere, der die Zukunft des Betriebs in China, in der Herstellung von technischer Keramik sieht.
Die Reihen der Verdächtigen lichten sich. Ein geschasster Exmitarbeiter bedroht seinen Exchef zwar mit der Flinte, die hat aber das falsche Kaliber. Auch seine Tochter, die ebenfalls für den Industriellen arbeitet, scheints nicht gewesen zu sein. Das engt das Feld der Verdächtigen auf die Kernfamilie ein: Doch auch der ältere Sohn ists nicht gewesen, denn dafür kündigt er seinen Job unter einem viel zu flächendeckendem Einsatz von Geigen und mit einem viel zu pathetisch-weinerlichen Basslauf. Wenigstens kommen die Kommissare Lannert und Bootz dem Motor der Geschichte auf die Schliche.
„Scherbenhaufen“ ist ein sehr sehenswerter Tatort. In ihrem zehnten Fall kommen Lannert, Bootz und Co. endlich auf Touren. Grandios der Fabrikant: Wie ein Zauberlehrling steht er vor dem Besen, der alles wegwischt, was dem Erfolg im Weg steht. Gegen Ende bricht der Film mit seinem Rhythmus: Auch das ist sehenswert von der Flucht bis zum Stoppschuss in den Oberarm (ach, würde der Leitmayrfranz so genau zielen). Positiv hervorzuheben ist, dass Kommissar Bootz nicht mehr so brachial als Antithese zum handelsüblichen Tatortkommissar inszeniert wird. Es ist ein Film, der die Höchstnote 6 verdient hätte – wenn da nicht dieses Ende wäre. Irgendwie scheinen es sich die hiesigen Tatortmacher in den Kopf gesetzt zu haben, ihre Filme mit unerträglichen Enden zu schliessen. Da wird dann schon einmal ein gelungener Tatort mit einem unerträglichen Heimatfilmgrunzen abgeschlossen oder ein 1A-Rachekrimi mit einer aufwendigen Seilkonstruktion ad absurdum geführt. Nach unten gedrückt wird die Note auch hier ganz am Ende, wenn auch auf erkennbar ironische Weise. Es kommt zu einem weiteren Beispiel des Genres „Zwei Tatortkommissare geben sich das ermittlungstechnische Ja-Wort“. Lannert legt Bootz den Ehering wieder an, wobei der schnulzige Sauglattismus nicht fehlen darf: „Bis das der Tod uns scheidet“. Man darf sich keine Illusionen machen, was das im Tatortland bedeutet: „Bis die Quote im Keller ist“ (manchmal kann man sich nicht einmal mehr auf die Quote verlassen). Wenn die Stuttgarter so weitermachen, besteht diese Gefahr aber nicht einmal im Ansatz.
Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 5.75.
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