Kommentatort 1

«Das Bunte und die grauen Männer»

Tatortkommissare sind überarbeitet, nicht beziehungsfähig und wenn sie ein Konzert besuchen, treffen sie das Mordopfer oder den Täter. Die Stuttgarter Kommissare Lannert und Bootz sind keine Ausnahme. Es geht in Ordnung. Niemand will schliesslich sehen, wie Tatortkommissare Steuererklärungen ausfüllen oder leere Glasflaschen in den Container sortieren.

Ein Betreiber eines Kunstareals und Konzertlokals (das Bunte!) wird mit eingeschlagenem Schädel gefunden. Kurz vor seinem Tod hat er die Tochter des Kommissars angerempelt und streitet sich mit dem zweiten Betreiber. Ein ambitionierter Investor (die grauen Männer!) hat ihn überredet, den Widerstand gegen sein Bauprojekt aufzugeben. Mit 150’000 guten Gründen, zu denen keiner Nein sagen kann, und die in dicken Bündeln in der Wohnung des Toten herumliegen. Bald gerät seine Ehefrau in dem Fokus der Ermittlungen. Sie ist Profikickboxerin und hat die Hand locker sitzen. In ihrer Eifersucht bildet sie sich ein, ihr Mann habe eine Affäre mit einer Anderen. Weitere Verdächtige: Der Baulöwe und seine rechte Hand. Die Betreiber des Kunstareals verzögerten sein Projekt mit nicht endenden Einsprachen.

Das reale Stuttgart ist berühmt für die Proteste gegen Stuttgart21. Proteste gegen Bauprojekte sind hier keine Phrase. «Wir können alles, ausser Bahnhöfe bauen», kann man sagen. So entbehrt es nicht der Ironie, wenn ein Stuttgarter Tatortkommissar sagt: «Wenn der Bahnhof erst einmal unter der Erde ist» – Wenn das Bauprojekt des unterirdischen Bahnhofs umgesetzt oder begraben ist. Weniger berühmt ist Stuttgart für seine Tatortkommissare Lannert und Bootz. Dazu sind sie noch nicht lange genug auf Sendung. Sie wirken uneingespielt, hölzern, blutleer. Die Figur des Kommissar Bootz ist zu sehr Antithese zum handelsüblichen Tatortkommissar, zu seifenopernhaft sein plakativ harmonisches Familienleben, seine überzeichnete schwäbische Bünzligkeit.

Die kommt voll zum Tragen, als die Kommissare an einer Kindergeburtstagsparty am Grill stehen und – so viel déformation professionelle muss sein! – die neuesten Verdachtsmomente durchgehen. Ehrensache, dass sich Kommissar Bootz bei der Gelegenheit über die laute Musik seiner Tochter aufregt. Nicht wegen der Musik an sich, logisch, sondern wegen dem Nachbarn, mit dem er keinen Ärger kriegen will. Der Spiesser von nebenan, der sich über den Spiesser von nebenan aufregt. Ein weiteres selbstironisches Detail.

Bootz darf sich für die massgeschneiderte Finanzierung einer Traumwohnung interessieren (genug Platz für ein drittes Kind!), während sein Porsche-fahrender Kollege Lannert sich im Zuge der Ermittlungen mit einem schwulen Kunstvermittler einzulassen hat. Ist es nur die Aussicht auf die Kunstsammlung des Investors, die den Kunsthistoriker umtreibt? Welches sind die Motive des Gehilfen des Baulöwen? Versucht da einer, den Kommissar zu bestechen?

Als der Fall eine halbe Stunde vor Schluss länglich zu werden droht, folgt die explosive Reanimation. Danach sind die Karten neu gemischt. Die Klischees der häuslichen Gewalt gegen Männer, der schwulen Kunsthistoriker und der Investoren sind auf raffinierte Weise verschachtelt. So subtil, dass man erst nach und nach den eigentlich treibenden Konflikt erkennt. Die lustvollen Anspielungen auf den schrulligen Münsteraner Rechtprofessor Börne sind wenig tatorthodox und gerade deshalb vielversprechend. Einzig der indiskutabel platte, zwischen selbstzufriedenem Heimatfilmgrunzen und Totoabend-Prosa changierende Schluss drückt die Bewertung dieses gelungenen Tatorts – wenn auch erheblich! – nach unten.

Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 5.25.

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