Kommentatort 37

Der Zellophan-Mann und das Übertöten

Im neuen Frankfurter Tatort „Es ist böse“ ermitteln Conny Mey und Frank Steyr in einer Ritualmord-Serie. Das ist wirklich böse, und es überzeugt.

Wir sehen, wie einer sich am ganzen Körper mit Zellophanfolie einwickelt, den kompletten Vorspann lang dauert das. Schnitt: Eine Prostituierte wird gefunden. Der Mörder hat ihr in Hände, Schenkel, Bauch gestochen, den Kehlkopf aufgeschlitzt. Dieses Vorgehen nennt sich im Profiler-Jargon ‚übertöten‘. Was nach einer paradoxen Steigerungsreihe kling, macht, wenn man sich die Toten anschaut, Sinn. Von Anfang an gilt für die Kommissare wie für die Zuschauer, was Steyr seiner Kollegin sagt, als sie den Tatort betritt: es ist böse – ein Blutbad.

Frau Mey reisst die Ermittlungen an sich. Ursprünglich hätte ein verhasster Kollege den Fall übernehmen sollen. Mey verspricht, sich im Fall eines Scheiterns der Ermittlungen zum Kriminaldauerdienst versetzen zu lassen, und gewinnt so die Oberhand. Derweil macht sich der neue Kollege, der keine Gelegenheit auslässt, Mey auf die Palme zu bringen, auch bei Steyr unbeliebt. Durch einen Reporter bringt der neue Kollege immerhin in Erfahrung, dass es sich beim Mörder um einen Serientäter handelt.

Während Mey sich verrennt, getrieben von diffusen Bildern, auf der Flucht vor einer inneren Gefahr, gerät der Exmann der Toten ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Doch während die Kommissare ihn in die Mangel nehmen, geschieht ein weiterer Mord. Es soll weder der letzte Mord noch der letzte Verdächtige bleiben. Der Zellophan-Mann übertötet wieder und wieder und wieder. Als die Kommissare den Täter endlich haben, ist die Indizienlage jedoch zu dünn. Sie müssen ihn freilassen.

Frau Dezenz und Herr Kontaktscheu legen ihren dritten Fall vor. Frau Dezenz geizt weiterhin nicht mit Reizen, auch wenn sie dieses Mal nicht gleich mit ihren Informanten ins Bett hüpft. Auch den langen, langen Gang lang darf sie wieder gehen, von hinten wie von vorn gefilmt, der Abwechslung halber im Röckchen mit Leggins, nicht nur in knallengen Jeans oder Jogginghöschen. Herr Kontaktscheu trinkt und schläft auch in dieser Folge im Kommissariat. Jedoch lässt er im Vergleich zu den letzten Folgen atemberaubend viel Nähe zu. So stellt er Conny Mey seinen Freund vor, einen Mann, den er in einer früheren Ermittlung zu Unrecht des Mords verdächtigte und der nun, ohne Familie, stigmatisiert, auf dem Sofa vor sich hin vegetiert, ohne Kontakte, bis auf Kommissar Steyr, der sich seiner ab und an erbarmt.

Auch „Es ist böse“ überzeugt mit einer Geschichte, die das Leben schrieb. Der Film zeigt die Belastung der Kommissare, ihre Hilflosigkeit angesichts fehlender Beweise und gleichzeitig überschäumender Intuitionen. Die Schilderung der Taten geschieht mit eindringlichen Aufnahmen der Leichen sowie in parallelen Schnitten, in denen die Opfer kurz vor der Tat zu sehen sind. Und sowieso: die Schnitte! die Schnitte! Auch dem neuen Frankfurter gefällt der Trend zu immer verhunzteren Leichen. Angesichts von zerstückelten Leichen, tiefgefrorenen Toten und In-Bambusfallen-aufgespiessten-Tollwut-Opfern schockieren diese Bilder durch ihre Reduktion auf das essenziell Böse.

Ein gelungener Tatort. Das eine oder andere Bild der Toten mag zu viel sein. Dramaturgisch nicht schlüssig war, warum Mey sich zum Kriminaldauerdienst versetzen lässt, nur, um aus einer Intuition heraus das entscheidende Indiz zu finden. Diese Intuition hätte sie auch beim Duschen oder, vom Kommentatort aus, beim Autofahren haben können. Ausserdem fragt man sich, warum der Mörder, der in der Nähe aller Opfer wohnte, mit dem Auto zu seinem letzten Mord gefahren sein soll, um dort eine verräterische Parkbusse verpasst zu bekommen. Ein weiterer Verdächtiger wird so lieblos als Ablenkungstäter eingeführt, dass man ihn nie im Leben für den Zellophan-Mann hält. Dennoch legen die Frankfurter dadurch, dass Mey und Steier nicht mehr nur auf Reize und Tourette-mässige Direktheit reduziert werden, einiges an Plastizität zu und lassen auf viele weitere Folgen hoffen.

Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 5.75.

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Aus zeitlichen Gründen erscheint dieser Kommentatort erst heute Mittwoch. Das verkürzt immerhin das Warten auf „Die Ballade von Cenk und Valerie“, den vorzeitigen Hamburger Abschied (am 6. Mai 2012).

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