Frau Geisel und der dunkle Wald
Im neuen Ludwigshafener Tatort „Der Wald steht schwarz und schweiget“ wird gewandert, was das Zeug hält. Es ist der erste erträgliche Odenthal-Kopper-Tatort seit Menschengedenken.
Dass man den Tatort nicht mit jeder Ausgabe neu erfinden muss, ging ja letzte Woche bei der Hamburger Abschiedsvorstellung vergessen. Während der Schwanengesang des Kurzzeit-Ermittlers und chronischen Tatort-Neudefinierers Cenk Batu als Ballade verbrämt war, setzt sich der neue Ludwigshafener Tatort ein Zitat aus einem der bekanntesten Volkslieder in den Titel: „Der Wald steht schwarz und schweiget“ ist eine Stelle aus Claudius‘ Abendlied. In dem Lied heisst es auch:
„Wir spinnen Luftgespinste/ Und suchen viele Künste/ Und kommen weiter von dem Ziel.“
Auch dies vergessen gewisse, in letzter Zeit leider gehäuft auftretende, grosskopfete, verkunstete, „Unter-bigger-than-life-gehts-nicht“ Gernegross-Genrefilmchen, die als ‚Tatort‘ aufs Publikum losgelassen werden. In diese Kategorie gehört der Ludwigshafener Tatort bisher wahrlich nicht, wurde er doch – gähn! – aus gänzlich anderen Gründen abgeschrieben.
Die Geschichte des aktuellen Ludwigshafener Tatorts liest sich schlimmstenfalls bedrohlich, bestenfalls wie ihre eigene Persiflage. Man muss schon sehr tief wühlen, um eine ähnlich groteske Anlage zu finden:
„Kommissarin wird in den Wald gerufen, wo man einen Toten gefunden hat. Sie wird in den Wald entführt.“
Anfangs wollte Odenthal, die ihr Rotkäppchen gelesen hat, gar nicht in den Pfälzerwald. Sie befand sich nur dummerweise gerade auf der Heimreise im Wald, als sie von Kopper überschwatzt wurde, bei der Leiche vorbeizuschauen. Die Kommissarin ist rein zufällig in der Nähe des Tatorts, inmitten eines 1800 oder 18’000 Quadratkilometer grossen Waldgebiets (die Pressemappe wollte sich auf keine genauere Angabe festnageln lassen).
Die Entführer verscharren die Leiche und wandern, Odenthal als Geisel, in Richtung Frankreich. Als sich Keppler telefonisch bei Odenthal meldet, zwingen die Jugendlichen sie, sich nichts anmerken zu lassen. Sie schafft es, kühlen Kopf zu bewahren, verlangt von Kopper, dass er sich um Frau Lesieg kümmere. Nachdem Odenthal nicht wie abgemacht in der gemeinsamen WG auftaucht, macht sich Keppler Sorgen. Besonders der Hinweis, sich um Frau Lesieg zu kümmern, rätselt ihn an. Als Kopper den Namen rückwärts liest, wird aus Lesieg „Geisel“ – wie Schuppen fällt es Kopper von den Augen.
Odenthals Entführer sind vorbestrafte Jugendliche. Als Resozialisierungsmassnahme sollten sie auf einem Marsch durch den Wald lernen, füreinander da zu sein. Dummerweise kommt ihr Aufseher um, weshalb sie nun auf der Flucht sind. Naturnah ist das alles, naturnäher, als es den Jugendlichen lieb ist. Auch das Publikum braucht Gewöhnungszeit, denn im Wald fehlen hergebrachte Tatort-Muster (Gespräch mit Verdächtigen, an Türen klingeln, mit dem Fritzen aus der Pathologie reden etc). Stattdessen wird nur gewandert und hintendrein gewandert. Es ist, als wollte man uns mit den schwitzenden Jugendlichen die Physis vergegenwärtigen, die es normalerweise braucht, um den Ludwigshafener Tatort ohne Schlafanfall zu überstehen. Die Ironie ist, dass dabei der erste erträgliche Ludwigshafener Tatort seit Menschengedenken herauskommt.
Schwachstellen hat auch dieser Film. Da ist die Szene am Lagerfeuer. Hier richtet Odenthal, die sich bisher löblich von ihren gefürchteten pädagogischen Exkursen fernhielt, mit voller Kelle an. Dieses Mal belehrt die Übermutter ihre Entführer über die hohe Kunst des Risotto. Ein weiterer Schwachpunkt ist die Szene am Schluss im Kastenwagen, wo die Kommissarin sich zu ihren Entführern gesellt. Zwar ist Odenthal bei diesen Szenen wieder ganz bei sich selbst, aber genau das ist ja die Krux. Dennoch ist „Der Wald steht schwarz und schweiget“ ein guter Tatort, der sowohl für sich allein, erst recht aber im Vergleich mit den sonstigen Ludwigshafener Filmen gefällt. Sogar die normalerweise immer besonders nervige WG-Szene kann man diesem Tatort verzeihen. Hier wird bewiesen, dass man den Tatort auch neu erfinden kann, ohne irgendwelchen Trends nachzuhecheln, vor lauter Gestaltungswillen und Schauspieler-Ego aber jeglichen Kontakt zum Publikum zu verlieren.
Der Tatort ist ja in letzter Zeit vielfach abgeschrieben oder neu ausgerufen worden. Stets heisst es bei allen Experimenten: Tatort gegen Tatortland, Film gegen Sofaexperten. Engagierte Diskussionen der Fälle gehören ebenso zum Gesamterlebnis wie Tatort-Kneipen, Foren, Plattformen, Websites. Nun sind die Zuschauer auch aktiv gefragt, denn „Der Wald steht schwarz und schweiget“ geht neue Wege. Dank eines Online-Spiels ist nach dem Tatort dieses Mal nicht vor dem nächsten Tatort, sondern mitten im Tatort. Noch bis zum 20. Mai kann das Publikum die offenen des Falles hier nachermitteln.
Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 5.
PS. Wenn Sie diesen Kommentatort rückwärts lesen, kommt ein Schoggi-Muffin-Rezept heraus.
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