Talwärts allerbeste Sicht
Mit dem neuen Luzerner Tatort „Hanglage mit Aussicht“ meldet sich der Kommentatort zurück. Es geht um Berge und um das Very-Important-Promi-Placement.
Die Innerschweiz ist ein urchiger Ort, wo es wenig braucht, um aus vertrauten Dingen Mordwerkzeuge zu machen: Eine Seilbahngondel, eine offene Tür und die Erdanziehungskraft genügen. So geschehen im neuen Luzerner Tatort „Hanglage mit Aussicht“: Jemand hat den Anwalt Benjamin Gross (Edouard Stöckli) aus einer Bergbahngondel geworfen. Hintergrund der Tat: Auf der Wissifluh, in einem Berggasthof mit atemberaubender Sicht auf den Vierwaldstättersee, findet eine 1.-August-Feier statt. Dort ist auch Regierungsrat Mattmann (Jean-Pierre Cornu), Kommissar Flückigers (Stefan Gubser) Vorgesetzter, anwesend. Er wird Zeuge eines Streits zwischen dem Mordopfer und dem Bauer und Besitzer des Gasthofs, Rolf Arnold (Peter Freiburghaus, Hälfte des ‚Duo Fischbach‘). Damit ist der Fall für den Politiker gelöst, er befiehlt, Arnold zu verhaften. Flückiger widersetzt sich und weitet die Ermittlungen aus.
Klischee-Parade
Dabei bleibt uns kein Klischee erspart: „Bergbauer geht mit Heugabel auf Helikopter los“; „Maja Brunner verkörpert Maja-Brunner-Verschnitt (und singt vor asiatischem Publikum)“; „Kommissar nervt sich auf Privatbank namens ‚Rütlibank‘ über Pauschalbesteuerung reicher Ausländer“. Das sind nur ein paar Beispiele aus einer sich deutlich länger als 90 Minuten anfühlenden Reihung von Plattitüden: kein Klischee zu pauschal, kein Stereotyp zu monoton, keine Aussenaufnahme zu postkartenhaft. Was diese Klischee-Häufung betrifft, besonders die Aussenaufnahmen, fragt es sich, ob hier eine von der ARD aufgetragene To-do-Liste abgearbeitet wird. Natürlich spielt Lokalkolorit auch in anderen Tatorten eine Rolle, in Köln huscht am Ende der Dom ins Bild und in Stuttgart die Baugrube S21. Jedoch geschieht dies en passant und braucht nur begrenzte Sendezeitressourcen. Hier aber führen die gehäuften Berg-, Seilbahn- und Stallszenen zur Reduktion der für Aufbau und Demontage der Verdächtigen unabdingbaren Sendezeit.
Dieser Kommissar ist auch ein Bauer
Mit der Feinzeichnung der Figuren hapert es. Als Flückiger merkt, dass seine Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer) Höhenangst hat, öffnet er mitten in der Fahrt die Seilbahngondel. Ob sie Schiss habe, fragt er, oh, das brauche sie nicht, schliesslich sei man hier – für die hochdeutsche Synchronfassung wird es eigens wiederholt – in der Schweiz, da sei alles reglementiert und sicher. Diese Anwandlung kontrastiert heftig mit der Szene, in der ein kreuzbraver Flückiger der Verdächtigen Claudia Arnold (Sarah Sophia Meyer) im Stall beim Schweinefüttern hilft. Flückiger hat in „Skalpell“ deutlich besser gefallen: dort hat er auch mal einstecken müssen, sich vermöbeln lassen müssen hat er sich von einer Horde Rotznasen. Damit erschien seine Figur plausibler als hier, wo er etwas zaudernd zwischen Fiesling und Traumschwiegersohn, kantigem Grummler und geschmeidigem Teamplayer, changiert. Flückigers auch in dieser Folge ausgelebte Leidenschaft für Ermittlungen an der Grenze des Erlaubten gefällt, liesse sich aber mehr in die Handlung einbauen. Im ersten Schweizer Tatort drang er in das Haus des verdächtigen Politikers ein, liess sich erwischen und vom Hausherrn einen länglichen Exkurs in Sachen Rechtskunde verpassen. Genau dasselbe jetzt in „Hanglage“, wenn auch ohne den Exkurs. Ritschard und ihr Kollege funktionieren ein iPhone um und ‚vergessen‘ es im Büro eines Verdächtigen, um dessen Reaktion auf den Polizeibesuch abzuhören. Dabei tun sich Spuren auf, die bis ins Büro von Regierungsrat Mattmann führen. Warum werden solche ermittlungstechnischen Übergriffe nur mit einem süffisanten Grinsen abgetan? Im Hader zwischen Paragrafen und Gerechtigkeitsbedürfnis liessen sich die Figuren glaubhaft vertiefen. Auch das mit der Heugabel erpresste Geständnis, welches die Kommissare dankbar belauschen, gehört zu diesen vertanen Chancen.
Liz wird immer greifbarer
Es tut gut, dass Liz Ritschard dem Chef Paroli bietet, auf Augenhöhe mit ihm zu ermittelt. Sie sollte sich aber nicht umgehend zurückbinden lassen, sondern den erfochtenen Freiraum auch tatsächlich nutzen, als eigenständige Figur auftreten, nicht bloss als Anhängsel. Warum ihr Chef etwa den Bergbauern Arnold, der seine Kollegin mit der Wumme bedroht, nicht umgehend verhaftet, ist ein Rätsel. Da passt es doch, dass Ritschard ihn hinter Flückigers Rücken verhaften lässt. Ebenso gut passt freilich, dass Flückiger, als er davon erfährt, erst einmal tobt und den kantigen Grummler auslebt. Von dieser Anwandlung erholt er sich so rasch, dass Ritschard nächstes Mal ruhig noch ein bisschen länger und hartnäckiger auf ihrem Standpunkt beharren darf.
Bleibt das restliche Ermittler-Team. Die Forensikerin Yvonne Veitli (Sabina Schneebeli) hat einen einzigen Satz – sie darf hypothetisieren, dass eine Leiche, die zerdeppert unter einer Bergbahn liegt und Schnittspuren an den Handflächen aufweist, zur Gondel hinausgeworfen worden sein dürfte. OK, es geht an, dass ein Profi die Spuren liest. Wozu aber braucht es das ansehnlich dotierte Backoffice-Ermittlungs-Team? Die Hilfsermittler machen kaum mehr als die eine oder andere Googelei, die Flückiger und Ritschard jedoch – oder gibt es am Vierwaldstättersee kein 3G-Netz? – auch selbst von unterwegs aus mit einem Wischiwaschi-Compüterchen erledigen könnten. Positiv ist die Figur des Regierungsrats Mattmann: Sein ewiges Deckeln der Fälle und das Spienzeln auf die nächste Wahl gefällt. Rätselhaft bleibt aber, warum ein so mächtiger Lokalgrande und Sturgrind sich ohne richterlichen Schrieb von einem circa tausend Instanzen unter ihm stehenden Kommissar zur Einvernahme vorladen lässt.
Ärgerliche Filmmusik
Möglich, dass es an der verwirrenden Musik liegt. Die ist ein Ärgernis. Sie irrt sich hartnäckig im Genre. Da wird emsig auf Psychothriller gegeigt, inexistente Spannung intoniert. Gerade in der Szene, als Claudia Arnolds irrer Ex (Gabor Biedermann) die Wissifluh hinaufrennt, was höchstens als Satire taugt, klaffen Musik und Handlung maximal auseinander. Hier ist für einmal die Musik im falschen Film, und man fragt sich beim Schauen, ob der resultierende, komische Effekt Absicht ist oder nicht. Der Effekt ist so befremdend wie der Kunstgriff mit den Zückerli: Auf der Bank, auf der Gemeinde – überall, wo Ritschard und Flückiger im Zuge ihrer Ermittlungen aufkreuzen, steht ein Glas Zückerli auf dem Tresen parat, an denen sie sich bedienen. Sogar in einer Grossaufnahme sieht man die Hand der Ermittler, mitten im Zückerliglas. Was soll das? Soll das moralisieren, zeigen, dass die einen sich nur bei den Bonbons bedienen, während andere die halbe Landschaft ausverkaufen? Soll es zeigen, wie bodenständig die beiden sind? Sind sie von der ‚actionreichen‘ Handlung ausgezuckert? Vielleicht soll es zeigen, wie süss Luzern samt Umland ist. So süss, um zu erklären, warum der Schweizer Tatort nicht gleich an der Limmat spielt, wo doch die meisten Leute eh zürimässige Dialekte sprechen, ist der Kniff aber auch wieder nicht. Wenigstens in Sachen „Dialektklischees im Schweizer Film“ schlüssig ist die Besetzung der schnippischen Sekretärin des Regierungsrats Mattmann: Ist es doch seit je her gang und gäbe, die Rollen von arbeitsfaulen Bösewichten und sonstigen unsympathischen Charakteren mit baseldeutsch sprechenden Figuren zu besetzen.
Luzern, das ist in den Bergen
Schön inszeniert wird das Luzerner Umland. Das war, wenn auch in geringerem Ausmass, bereits im letzten Luzerner Tatort so. Man dürfte also gelegentlich noch selbst im flachsten, hintersten und letzten Krachen des ARD-Sendeverbunds begriffen haben, dass Luzern von Bergen umgeben ist. Vielleicht, so hofft der Kommentatort, geht es darum bald auch in Luzern ein wenig, nun ja: urbaner? Einfach mehr Innenräume und Verdächtige filmen, man muss ja nicht gleich die Berge wegretuschieren. Die frei werdende Zeit kann man für den Aufbau eines Verdächtigen gebrauchen.
Very Important: Promi-Placement
Ein Sendeverbund-weit bekanntes Ärgernis sind die auf Biegen und Brechen in die Tatorte eingebauten Promis. Dabei liegt es am mehr oder weniger geneigten Publikum, die Frage zu beantworten, ob solche Gastauftritte nicht auch von, sagen wir, Hospitanten oder Lookalikes erledigt werden könnten. So kommt es durchaus einmal vor, dass in einem unmittelbar vor der Frauen-Fussball-WM ausgestrahlten Tatort zur Darstellung von Theo Zwanziger, Oliver Bierhoff und Jogi Löw Jogi Löw, Oliver Bierhoff und Theo Zwanziger verpflichtet werden. Sie sassen gewichtig an einem Tisch und markierten die Präsenz von Ligabossen: authentisch und im niedrigen Sekundenbereich. Etwas durchdachter ist in „Hanglage“ der Promiauftritt von Peter Freiburghaus, bekannt aus dem „Duo Fischbach„, aber auch aus dem Film „Nebelgrind“. Der verkörperte den renitenten Älpler so überzeugend, dass es keine Rolle spielte, wer hinter der Rolle steckte, die Frage nach dem Schauspieler stellte sich nie, die Pressemappe klärte über die Personalie auf. Ganz anders bei Maja Brunner: die spielt die Volksmusiksängerin mit einem derart grossen Maja-Brunner-Einschlag, dass man sich fragt, warum man ihr überhaupt den „Decknamen“ Maria Imbach verpasste. Wenigstens hörte man sie – und das muss man den Machern hoch anrechnen! – nicht singen. Alles in allem war ihr Auftritt tappsig und wenig überzeugend oder gar zwingend. Trotz allerbester Motivlage als Witwe des vermögenden Toten tauchte für keine Sekunde die Vermutung auf, dass sie die Mörderin sei. Vielmehr scheint man hier eine Drehbuchlücke mit Promifaktor aufhübschen zu wollen. Vielleicht erhofft man sich beim SRF eine höhere Einschaltquote beim langweileresistenten Volksmusikpublikum? Gut auch möglich, dass Brunner wegen der sommerlichen Resteverwertung „Cover me“ sowieso gerade im Studio greifbar war und deshalb abgefilmt wurde.
Brunner und Freiburghaus sind aber auch, wie man sagen muss, ein gelungenes und ein lässliches Promi-Placement, wenn man sie mit den Very-important-Promi-Placements aus dem übrigen Tatortland vergleicht. Dort scheint man so gebannt vom Klang ganz grosser Namen, dass man doch glatt den Schweigertil samt Tochter zur Darstellung des Schweigertils samt Tochter verpflichtet. Dies jedoch wohlgemerkt gleich ganz grosse Kelle, als neuer Hamburger Ermittler, und nicht nur in einer Episodenrolle. Hier mag die Hoffnung im Raum stehen, die serbelnde Hamburger Quote in die Höhe zu treiben. Dafür kann man schon mal ein bekanntes Gesicht vor die Kamera schubsen. Ob dieser Promitrend zu dauerhaft grösserem Interesse am Tatort führt, oder ob es doch eher, wie bei Schweiger, die Risikovermeidungslust der Redaktionen befriedigt, wird sich weisen müssen.
Fazit
Der erste Schweizer Tatort fiel soso-lala aus, gerade ein bisschen mehr als genügend, wenn er auch allenthalben im Chor zu Tode gesungen wurde. Doch immerhin ging man dort mit der provokanten Ausgangslage das Politikers, der für den grossen Wahlerfolg über die eigene Leiche geht, ein nicht unerhebliches, teilweise verstörendes Risiko ein. Im zweiten Film vermied man alle – bewusst in Kauf genommenen? unterschätzten? – Risiken und drehte einen flachen und teilweise doch recht komischen Problemtatort zum Thema Transgender. Das fiel deutlich hinter dem Einstand ab, führte zu stark Wikipedia-lastigen Problemerörterungsdiskursen und gefiel nur in der Schlussviertelstunde. Leider zeigt die Kurve bei „Hanglage mit Aussicht“ weiter nach unten. Die Promiauftritte gehen ja gerade noch an, ebenso der Rückgriff auf die biedere Ausprägung des Problemtatorts. Es ist ja im Tatort-Land gang und gäbe, aktuelle Diskurse um einen Mord herum zu drapieren. Jedoch operieren gerade die sehenswertesten Problemtatorte längst nicht mehr so holzschnittartig mit Gut und Böse: Hier wurden zu viele Chancen, den Konflikt zu vertiefen, vertan. Trotzdem trifft der Film einen Nerv, und das nicht nur wegen der Annahme der Zweitwohnungs-Initiative. Mit der Bodenspekulation in den Bergen wird zeitnah ein Thema aufgegriffen, das beschäftigt. Verstörend ist, dass man einen Bergtourismus-Werbefilm draus gemacht hat, der so viel Sendezeit verschluckt, dass keine Musse mehr für einen ordentlichen Krimi oder den Aufbau plausibler Verdächtiger bleibt.
Note auf der Note auf der „Wie-einst-Lily“-„Nie-wieder-frei-Sein“-Skala*: 2.
Eine gekürzte Fassung dieses Kommentatorts erschien am 26. August 2012 auf der Medienseite der Basler Zeitung BaZ.
Pingback: Kommentatort 63: "Schmutziger Donnerstag"kommentatort.ch
Pingback: Kommentatort 46 » kommentatort.ch