Kommentatort 6

«Klar wie Käse in der Zuckerdose»

In einer Kunstglaserei wird eingebrochen; der Besitzer stellt den Einbrecher und haut ihn tot. Ein klarer Fall von Notwehr. Doch es ist komplizierter. Der Einbrecher war der Sohn des Hauses; sein Vater und Mörder, schwer demenzkrank, will ihn nicht erkannt haben. Der Sohn ist das Gegenteil des Vaters, ein gewalttätiger Verlierer, der nach der Trennung von Frau und Sohn in der ehelichen Wohnung bleibt, während seine Frau und sein Sohn sich um seinen Vater kümmern. Kurz vor seinem Tod kam es zu einem Streit zwischen ihm und seiner Frau; es scheint um eine seiner Geliebten aus dem Osten gegangen zu sein.

Schnell geraten die Münchner Kommissare Leitmayr und Batic in ein Netz der Widersprüche. Zuallererst wollen sie herausfinden, ob der Mörder so dement sein konnte, dass er den Sohn nicht erkannte. Ihr Misstrauen ist nicht unberechtigt, denn immer wieder huscht ein berechnendes Grinsen über das Gesicht des angeblich Dementen, was darauf schliessen lässt, dass er sein Gebrechen als Tarnkappe einzusetzen weiss. Stille Tragödien spielen sich ab – etwa, als Kommissar Batic, zum Kaffee eingeladen, Zucker aus der Dose schaufeln will, dort drin jedoch ein Stück Käse findet. Klar wie Käse in der Zuckerdose ist denn auch der Fall. Es kommt zur neurologischen Untersuchung des Alten, die aber auch nicht zu der von den Kommissaren erhofften Klarheit führt. Der Verdacht, dass die Krankheit vorgeschoben sei, korrigiert sich, als das Ausmass der Belastung ans Tageslicht kommt, welcher die Pflegenden des Alten ausgesetzt waren. Um dem Pflegeaufwand gerecht zu werden zu, hatten sie eine illegale Pflegerin aus dem Osten angestellt. Eine neue Spur tut sich auf, als in der Wohnung des Opfers, der der reinste Pflegezuhälter war, ein Katalog von Fotos solcher Frauen gefunden wird.

Weitere Spuren führen in die Kanzlei eines windigen Rechtsanwalts: Der hat eine Generalvollmacht über das Vermögen des Dementen, einen schmierigen Schnauzer sowie eine prächtige Villa, alle Insignien, die ihn in bester Tatort-Manier als potenziellen Mörder dastehen lassen (vgl. den Kommentatort «Piff! Paff! Puff!»). Es kommt heraus, dass auch der Anwalt eine Auseinandersetzung mit dem Opfer hatte. Immer mehr Geständnisse stapeln sich: Neben dem Grossvater will auch der Sohn des Hauses der Mörder gewesen sein. Oder will er die bulgarische Pflegerin decken, die kurz vor dem Zwischenfall von seinem Vater bedroht und verprügelt wurde? Ein bis zuletzt vertrackter Fall, alles ist von Anfang an offensichtlich, und doch streicht man einen Verdächtigen nach dem anderen von der Liste.

Ein Fall, der das brisante Thema der weder zu berappenden noch zumutbaren Pflege von schwer demenzkranken Familienmitgliedern angeht, ohne den Zeigefinger zu strapazieren (aber dennoch, so viel sonntägliche TV-Verwertungskette muss sein, als Steilpass auf Anne Will fungiert). Positiv fällt ins Gewicht, dass die beiden Kommissare für einmal mit ihren Gewohnheiten brechen und es trotz der Pendelei nicht zur obligatorischen «Wir-lösen-unsere-Fälle-während-wir-Auto-fahren»-Szene kommt (vgl. den Kommentatort «Frau Dezenz und Herr Kontaktscheu»). Auch in weiteren Belangen ist sich dieser Tatort seiner Mittel bewusst, etwa, wenn es zur auch schon in diversen Krimis gesehenen «Wir-wollen-den-genauen-Todeszeitpunkt-wissen»-Szene zwischen den Kommissaren und den Fährtenlesern von der Kriminaltechnik kommt. Dieses versteckte Spiel mit den eigenen Stilmitteln und Inszenierungsbedingungen reisst die Benotung dieser Episode noch einmal nach oben.

Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 5.

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2 Responses to Kommentatort 6

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