Der neue Hannoveraner Tatort „Wegwerfmädchen“ dreht sich um sexuelle Gewalt gegen Kinder, ausgeübt von den besten Kreisen der Stadt. Ein beklemmender Film, der viele Fragen offen lässt.
Zwei Mädchen werden mit barocken Kostümen und Schminke für ein rauschendes Fest der feinen Gesellschaft hergemacht. Sie wurden eigens für das Fest aus Weissrussland nach Hannover gebracht. Champagner fliesst, und nicht nur der. Zwei Mädchen werden gegen ihren Willen in ein Nebenzimmer gebracht.
Wenn Unsagbares geschieht
In der nächsten Einstellung geschieht es: Ein gammeliger Rocker verabreicht den beiden eine Spritze, stopft sie in Mülltüten und tut ihnen an, was diesem Tatort den Namen gibt. Doch war da nicht eine Bewegung, ein Huschen, an einer der Mülltüten, bevor sie vor die Verbrennungsanlage geschmissen wurden? Dann arbeitet sich eine Hand durch den Müllberg. Eines der Wegwerfmädchen taucht wieder auf. Das andere ist tot.
Kein Reduktionismus
Der Titel sagt es: Hier werden Kinder und Jugendliche zur nach Belieben misshandelbaren Ware reduziert, die nach Gebrauch zu den sonstigen Ausflüssen der Wohlstandsgesellschaft geschmissen werden. Zugleich wird auch die Gegenseite angeschnitten, eine mögliche Sicht der Dinge im bettelarmen Weissrussland. So kommt es ganz ohne die sonst so häufig in Tatorten vorkommende problemdiskursrelevante Verschwurbelung und Überfrachtung aus, wenn der Vater des überlebenden „Wegwerfmädchens“ daheim zu seinem Grosskind sagt: „Mama kommt nicht nach Hause, vielleicht nächstes Jahr, sie muss arbeiten.“
Wenig überraschendes Thema
Dass mit „Wegwerfmädchen“ schon wieder ein ein Tatort-Zweiteiler sich mit sexueller Gewalt und Morden an Kindern befasst, mag zwar thematisch nicht überraschen, schockiert dafür umso mehr in der Umsetzung. Trotz des pikanten Themas wird weder mit dem Finger gezeigt noch werden mit der andernorts üblichen Trompeterei gesellschaftliche Missstände benannt. Stellenweise hat der Film fast einen dokumentarischen Charakter.
Harte Bildsprache, weiche Szenen
Lindholm geht auf alles, gibt alles in diesem Fall, wo zwischen schmierigen Immobilienhaien und deren Anwälten, hirnamputierten Töfffahrern und moralisch fragwürdigen Staatsanwäten ein reiches Ensemble zwielichtiger Charaktere sich die zweifelhafte Ehre gibt. Der Film lebt von einer reduzierten, harten Bildsprache, die mit der Nüchternheit des Ganzen harmoniert. Der Anfang etwa steuert so zügig vom rauschenden Fest auf die abstossenden Szenen zu, dass man froh ist, wenn Kommissarin Lindholm in der nächsten Szene in der Heia zu sehen ist mit ihrem Liebhaber.
Der kleine Lindholm
Bisher vermochte Lindholms zwischen Job, Kind und Liebhaber unausgeglichen gesplittete Privatleben den Kommentatort nicht zu überzeugen. Zu oft hatte ihr Kind nur die undankbare Rolle, von der eifrig ermittelnden Mutter in den ersten zehn Minuten an der Garderobe abgegeben zu werden (© by Andy Strässle). In „Wegwerfmädchen“ freut man sich auf die kleinen und ruhigen Momente, in denen Fussball gespielt wird oder Rad gefahren.
Was von „Wegwerfmädchen“ bleibt
Das Gefühl, das der Handlanger gefasst ist, die Hinterleute aber nicht zu fassen sein dürften. Und dass Kommissarin Lindholm nicht auf Rocker steht.
Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 5.5.