Kommentatort 66: Tatort „Willkommen in Hamburg“

Der erste Tatort „Willkommen in Hamburg“ bietet Nick Tschiller viel Raum, um seinen inneren Til Schweiger auszuleben. Trotzdem zwingt der Film dazu, Vorurteile nachzubearbeiten.

Mitarbeit: Andy Strässle

Gleich das erste Bild des Tatort „Willkommen in Hamburg“ zeigt, wer hier der Mann der Stunde ist: Til Schweiger alias Nick Tschiller macht sich zu einer Routineuntersuchung einer Wohnung auf. Er landet einen Volltreffer, ist die Wohnung doch voll von minderjährigen Zwangsprostituierten. Sie gehören dem gefürchteten Astan-Clan, der mit den Behörden einen fragilen Burgfrieden (auch bekannt als: Kiezfrieden) geschlossen hat. Prompt kommt es zu wüsten Auseinandersetzungen (durchaus nicht ohne Ironie: Tschiller sticht einen Bösewicht mit einem Eierstecher ab!) mit anschliessender Rumballerei. Bilanz: drei tote Mafiosi und ein völlig zerdellter Rollstuhl.

Staatsanwältin oder Mafia ficken?

Klaro, kommt der Rumballerer ins Fadenkreuz der internen Untersuchungsinstanzen. Die Frage muss erlaubt sein, ob die eine oder andere Verhaftung – gääähn! – nicht auch zum Ziel geführt hätte. Um das Publikum schon wieder daran zu erinnern, dass im Tatort „Willkommen in Hamburg“ Til Schweiger am Ruder sitzt, intressiert sich die Staatsanwältin mehr für sein Gesäss denn für die Gründe seiner Rumballerei, und sie fragt ihn, ob er sie oder den Mafiaclan ficken wolle.

Ein Tatort, ein Krimi, fuck!

Der Film beginnt sich, nachdem der Pulverdampf weg ist, gehörig zu verkomplizieren. Zwar sind die Rollen zwischen Gut und Böse denkbar holzschnittartig verteilt. Was genau aber ist die Rolle von Tschillers ehemaligen Partner Max Brenner, der am Tatort der Schiesserei auftaucht? Hat er die Seiten gewechselt, berät er den Astan-Clan, oder wohnt er nur in einer sichtlich verrufenen Gegend? Fragen über Fragen, von Tschiller käumlich allein zu beantworten. Weshalb man ihm einen Partner, Yalcin Gümer, an die Seite schreibt. Schon beim ersten Einsatz kriegt der eine Kugel ab und wandert ins Spital, wo er sexy Krankenschwestern die Röckchen beschaut. Nebenbei (schliesslich ist das ein Tatort, ein Krimi, fuck!), ermittelt er halt eben ein bisschen am Laptop herum. Ausserdem spioniert er mit seienn Webcams die von Tschiller in seine Wohnung verfrachtete jugendliche Zwangsprostituierte Tereza aus.

Gehänselt und gegretelt

Es gibt eine undichte Stelle im Polizeiapparat – Tereza wird gejagt und entführt und gehänselt und gegretelt: Tschiller bekommt also massig Gelegenheit, um sich als weisser Ritter zu positionieren. Alleine, von den Kollegen gemieden, im Visier einer nymphomanischen Staatsanwältin, bricht Tschiller auf, um auf dem Hamburger Kiez seinen Schweiger zu stehen. Dazwischen werden hastig Bilder reinmontiert, welche die Macht noch des im Knast einsitzenden Astan-Clanchefs überdeutlich aufzeigen. Von solchen Weiterungen aber lässt sich Tschiller nicht beeindrucken. Einhändig hangelt er sich von Liane und zu Liane; er ward erst ganz am Ende des Filmes wieder ruhend gesehen, wenn die von ihm befreiten Prostituierten – in gebührendem Abstand hinter Tschiller, versteht sich! – in einer Art Auszug aus der Hölle befreit werden und ihren grossen Helden mit grossen, bewundernden Augen begucken.

Kein Tatort

Der Tatort „Willkommen in Hamburg“ ist kein Tatort. Ehrensache, so was wollte Schweiger ja auch nicht. Die Wahl des Regisseurs fiel mit Christian Alvart glücklich aus. Der Film transportiert viel von seiner Grundstimmung durch die Fotografie. So entsteht eine streckenweise im besten Sinn comic-hafte Stimmung, die der bedenkenlos gefrönten Action zuträglich ist. Natürlich darf sich Tschiller ausführlich mokieren über diese verkuschelten Bedenkenträger, seine Vorgesetzten, die es doch glatt nicht ganz so gelungen finden, wenn einer der Ihren wie irre rumballernd seinen Einstand in Hamburg gibt.

559952_10151508869110211_1242730905_n (1)
Screenshots der Tatort-Fans beweisen es: Schweiger liess Stangen abmontieren, weil er sich nicht mehr hochkriegt.

Kein Thriller

Der Tatort „Willkommen in Hamburg“ ist auch kein Thriller. Zwar ist er reich an Ballerszenen und Spannung, verdient als Actionfilm ein wenig Beachtung. Doch die Macher erinnern sich einfach zu oft daran, dass sie sich, bei allen sogenannt ‚revolutionären‘ Absichten ihres Films, immer noch in der Reihe „Tatort“ bewegen. Weshalb dann also Schweiger-Tochter Luna zu Tschiller-Tochter Lenny ernannt wird, um sich, zeitnah, am iPad abservieren zu lassen und sich, ganz tatorthodox, über den Rabenvater auszulassen, der es nach der Rumballerei versäumt, ihr den georderten Harass Cola zu bringen. Wenigstens wird man Lenny in künftigen Tschiller-Tatorten in Kriminalfälle verwickeln können, und durch ihr mündiges Alter muss Väterchen sie auch nicht am Anfang der Filme an der Garderobe abgeben wie weiland Rabenmutter Charlotte Lindholm. Auch die sendeverbundsweit grassierende Marotte der totgerittenen ‚running gags‘ wird hier gepflegt. Anders lässt es sich nicht erklären, warum Töchterchen so ausführlich auf den Kochkünsten des Väterchens rumhackt. Auch klaro, dass diverseste Bande bestehen zwischen dem Hamburger Neuling Tschiller und so ziemlich allen an der Handlung Beteiligten: Sei es der abtrünnig gewordene ehemalige Partner oder die ehemalige Freundin, die nun ein neues Bettgspänli hat.

Eier haben und Eier kochen

Eier hat er, der Tschiller, dieser vorösterliche Kalauer sei den Kommentatort-Lesern nicht vorenthalten. Nicht nur, dass er einen ganz bösen Bösewicht mit dem Eierstecher absticht, nein: Auch trifft er seinen künftigen Tatort-Kollegen aus dem Hamburger Umland, Kommissar Thorsten Falke (Wotan Wilke), auf dem Stehklo, wo Schwanzlängen verglichen werden. Da passt es, dass Tschiller in der einzigen so etwas wie ambivalenten Stelle des Films zu der ihm einen Blowjob anbietenden jugendlichen Prostituierten nuschelt, dass er schwul sei. Wehe aber einer TV-Reihe im Jahr 2013, wenn eine solche Stelle das erreichbare Maximum an Devianz männlicher Ermittler darstellt. Wenn man an die Luzerner Ermittlerin Liz Ritschard denkt, die sich neulich, in wunderschönen Bildern, mit einer Frau im Bett tummelte, gönnt man Tschiller diese Anwandlung schulterzuckend, hoffend, dass hier nicht Tür und Tor geöffnet werden für eine spätere ‚Plausibilisierung‘, ‚Vertiefung‘ und ‚Problematisierung‘ der Figur Nick Tschiller. Zu sehr hofft man, dass in Hamburg nicht auch künftig so viel wertvolle Ermittlungszeit mit Bullshit verbraten wird.

Fragen, die bleiben

Es bleiben Frageb, die üblichen Risse in der Logik: Warum handelt der Astan-Clan so, als sei der „Kiezfrieden“ von irgendeiner bekoksten Konkurrenzbande gebrochen worden, und nicht von der Polizei? Wenn man schon einen Maulwurf hat, der die Bullerei in- und auswendig kennt, warum sich von dem dann nicht zur Räson bringen lassen? Warum hat man den eine absolut sehenswerte Nebenrolle spielenden Tschiller-Partner an die Peripherie der Handlung geschrieben? Warum wird ausgerechnet – ein kleinlicher Einwand! – die Ermittlungsschiene so an den Rand gedrängt?

Tatort Balla-Baller-Filme

Angesichts dessen, was uns in den letzten Jahren so an neuen Tatort-Ermittlern vorgesetzt wurde, haben wir es mit Tschiller ganz gut getroffen. Immerhin stammen die meisten der hier so deutlich sichtbaren Marotten deutlich nicht von der Versatzstücke-Resterampe, an der sich so viele andere neue Kommissare bedienen: man denke an den gummistiefeltragenden Vespa-Fahrer, der seine Ermittlungen bei Yogaübungen forciert oder an diesen gewissen Ermittler, der sich, an der Stelle eines Ermittlungspartners, einen Gehirntumor namens Lily ins Drehbuch schreiben liess. Der Kommentatort würde es Tschiller nachsehen, wenn er auch künftig viele weitere Tatort-Balla-Baller-Filme liefert (in diesem Metier ist er nicht der Erste, wenn auch der Konsequentere, pfiati und baba). Bedenklich ist, dass einem profilierten Schauspieler ein solches Gefäss fast bedingungslos zugehalten wird: Die Quote geht über alles, der Tatort Münster scheint die einzige anvisierte Vergleichsgrösse zu sein. So wird der Tatort zu einem über der Reihe stehenden Ereignis, welches Jahr für Jahr im Vorfeld der Ausstrahlung mit kantigen Thesen und Extrawünschen zurück aufs Tapet kommt.

Die leidigen Finanzen mal wieder

Dabei geht die Realität aller anderen, weniger prominenten Teams vergessen: Die schrumpfenden finanziellen Mittel. Klar, verlangt Schweiger im „Spiegel“-Interview plakativ für alle Teams mehr Geld. Er weiss, dass das kaum möglich sein wird, und ebenso weiss er, dass er es mit seinem prominenten Namen und der homöopathischen Dosierung seines Wirkens schaffen wird, sich die paar Hunderttausende Euro extra zusammenzuschnorren. Da kann er sich mit solchen wohlfeilen Forderungen ruhig beliebter machen im ansonsten alles andere als ihm wohlgesonnenen Tatort-Ermittler-Kollegium.

Was vom Tatort „Willkommen in Hamburg bleibt“

Das Schöne an Vorurteilen ist, dass man sie einem Nachurteil unterziehen kann. Dieser Fall ist mit dem Tatort „Willkommen in Hamburg“ für den Kommentatort eingetreten. Viel hat der Kommentatort gegen diese Personalie gelästert. Angesichts der Vorurteile ist ein passabler Einstand gelungen. Zwar ist der Tatort „Willkommen in Hamburg“ weder Krimi noch Actionfilm, aber nichtsdestotrotz sehenswert.

Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 4.5.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Allgemein und getaggt als , , , , . Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

2 Responses to Kommentatort 66: Tatort „Willkommen in Hamburg“

  1. Pingback: Kommentatort 67: Tatort "Schwarzer Afghane" - kommentatort.ch

  2. Pingback: Action für die Fans « Ansichten aus dem Millionendorf

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert