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Kommentatort 60: Tatort „Machtlos“

Der neue Berliner Tatort „Machtlos“ macht seinem Titel alle Ehre. Machtloser hat man selten Tatortkommissare gesehen. Eine Kindesentführung bringt Ritter und Stark an ihre Grenzen. Oder handelt es sich um einen Kindsmord? Ein düsterer Film, der unaufgeregt an den Grundfesten rüttelt.

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Kommissar Ritter und Uwe Braun liefern sich einen Wettkampf in den Disziplinen „Ich-schweige-mich-aus!“ und „Ich-prügle-es-gleich-aus-dir-raus!“. Das Schweigen des Verdächtigen lässt viel wertvolle Zeit verstreichen, die dem Entführten das Leben retten könnte. Zusehends hilflos versuchen die Kommissare, den eiskalten Entführer Uwe Braun weichzukriegen. Doch der Mann kennt seine Rechte: Niemand kann ihn zwingen, sich selber zu belasten. Als er Essen und Trinken bestellt und von den Schattenseiten der Nahrungsmittelspekulation schwafelt, während sein Opfer möglicherweise verdurstet, kommt selbst der stoische Kripo-Assistent Weber sekundenweise an seine Grenzen.

Ein neunjähriger Junge, Benjamin Steiner (Mika Nilson Seidel) wird entführt. Aus unerfindlichen Gründen werden die beiden Mordkommission-Kommissare Till Ritter (Dominic Racke) und Felix Stark (Boris Aljinovic) auf den Fall angesetzt. Sie sollen den Kontakt zu den Eltern des Entführten halten. Nach einer unerträglichen Wartezeit meldet sich der Entführer mit einer DVD bei ihnen. Die Aufnahmen zeigen Benjamin, dem es noch gut zu gehen scheint; ausserdem wird eine Lösegeldforderung an das gutbetuchte Elternpaar gerichtet. Es kommt zur Lösegeldübergabe. Doch anstatt die Ermittler zum entführten Jungen zu führen, verschenkt der Entführer die 500’000 Euro wahllos an Passanten auf dem Alexanderplatz. Der Entführer lässt sich von den verdatterten Polizisten widerstandslos festnehmen; den zweiten Teil seiner Lösegeldforderung will er den Eltern persönlich übermitteln. Er scheint darauf zu spekulieren, dass die Polizei ihn dann schon wieder samt Lösegeld entlässt, wenn er nur den Aufenthaltsort seines Opfers verschweigt.

Mann ohne Anhaltspunkte

Der Entführer, Uwe Braun (Edgar Selge), hat eine finstere Vergangenheit, vor der er sich auf der Flucht befindet. Er hat weder einen festen Wohnsitz noch ein Bankkonto, und auch die Bande zu seiner Familie hat er zerrissen. Er ist ein Mann ohne Anhaltspunkte und stellt die Kommissare vor ein Rätsel nach dem anderen. Bei der Begegnung zwischen Braun und den Eltern des Entführten ergibt sich der erste Anhaltspunkt. Braun muss Benjamins Vater kennen. Doch Bankdirektor Steiner kann sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang er Braun kennenlernte. Offensichtlich beschränkt sich dieses Nichtwissen auf Steiner – denn Braun handelt genau aus diesen Gründen: Was zwischen im und Steiner damals vorfiel, treibt ihn an. Braun und Steiner gerieten damals aneinander, als der Unternehmer Braun Steiners Bank um Kredite bat, die zunächst gewährt, dann aber rasch eingestellt wurden. Die Zeit rennt den Ermittlern davon, denn Braun schweigt sich aus darüber, wo er den Jungen gefangenhält. Er lässt einzig durchblicken, dass der Junge noch zwei Tage lange Trinkwasser habe, nachher werde er verdursten. Es stellen sich Fragen über Fragen: Sagt der Entführer die Wahrheit – oder ist der Junge schon tot? Wird Brauns in Zürich ausfindig gemachter Sohn es schaffen, den Vater zur Vernunft zu bringen?

Hilfloser Krisenstab

Der Berliner Tatort „Machtlos“ ist keine leichte Kost, und auch alles andere als Hausmannskost. Anfangs staunt man, was Ritter und Stark, die ja bei der Mordkommission ermitteln, in einem Entführungsfall gross zu tun haben sollen. Ein lässlicher Einwand, muss der Kommentatort gestehen. Die meiste Zeit bibert man, da man seine Tatorthodoxien im Kopf hat, um den Jungen: Was, wenn er längst tot ist, Braun die Polizisten narrt und es eine Frage der Zeit ist, bis der verdurstete Junge gefunden wird? Natürlich wäre es des Entführers Schuld – aber hätte die Polizei ihn nicht vielleicht doch ziehen lassen können mit der zweiten Hälfte des Lösegelds? So bangt und hofft man mit den Kommissaren und ihren Kollegen vom Krisenstab. Je länger dieser aussergewöhnliche Film dauert, desto mehr hinterfragt man seine grundlegendsten Erwartungen an den Tatort an sich – wie war das noch mal mit der Leiche, die in den ersten Minuten kommen muss?

Üble déja-vus

Derweil beschleichen einen Erinnerungen an einen Kriminalfall der jüngeren Vergangenheit, von Anfang der 2000er-Jahre. Vor dieser Folie ist man beruhigt, dass die Kommissare der Versuchung widerstehen und, bei aller Angst um den Entführten, nie bis zum Äussersten gehen. Der Entführer Braun erinnert nicht von Ungefähr an den Studenten Gäfgen – beiden ist gemeinsam, dass sie ihr in der Verfassung verbrieftes Recht, zu schweigen und sich nicht selbst belasten, kaltschnäuzig ausnutzen. Braun konfrontiert auf bestialisch-berechnende Art und Weise den von ihm als Unrechtsstaat empfundenen Rechtsstaat mit der Versuchung, zur Vermeidung eines noch grösseren Übels über die Grenzen des gesetzlich Zulässigen hinauszugehen. Er nimmt es in Kauf, dass der Junge verdurstet – und redet sich heraus, dass die Schuld, sollte dieser Fall eintreten, hälftig verteilt wäre zwischen ihm und den Polizisten, die ihn nicht mit dem Lösegeld ziehen lassen. Wie damals in seinem Dafürhalten seine Existenz auf dem Rechtsweg vernichtet wurde, will er die Eltern und Kommissare vernichten: Indem er nichts tut, als seine Rechte wahrzunehmen.

Ritter und Stark, hilflos

Dass Ritter und Stark sich nicht von ihrer Hilflosigkeit hinreissen lassen und dem Entführer nicht dieselbe, aus jedem gewohnten Zusammenhang reissende Gewalt angedeihen lassen wie er seinem Opfer, ihn nicht in einer finsteren Zelle hungern und dursten zu lassen und ihn bedrohen oder gar vermöbeln, bis er sein Schweigen bricht, zeigt den Ausnahmezustand, in dem sie sich befinden, drastischer und beklemmender auf, als wenn sie sich über alle Vorschriften und Grundrechte hinweggesetzt hätten.

Jetzt kommt ein Spoiler!

Auf was wird nicht alles mittlerweile schon seriell verzichtet in Sachen Tatort: Auf Drehbücher, die über Improvisationsvorlagen für überbewertete Schauspieler oder Resteverwertung von Grossschriftstellern hinausgehen; darauf, den Fall innert neunzig Minuten abzuschliessen, den Mörder zu verhaften; auf die Kölner Currybude vor dem Ab- und die Bierwerbung vor dem Vorspann; auf den letzten Funken Menschenverstand, der zugunsten der Quote gekübelt wird. Lange, lange, ist es aber her, dass ein Tatort auf – Achtung, jetzt kommt ein Spoiler! – die Leiche gänzlich verzichtete. So gesehen ereignet sich im Berliner Tatort „Machtlos“ eine Revolution. Zwar ist es ein wenig billig, wenn sich der Entführer am Ende nebst Rache auch noch mit dem Hunger in der Dritten Welt herausredet. Hier wird der Mord zum Sonntag, der keiner ist, phasenweise doch wieder zum moralisierenden und anklagenden Wort zum Sonntag. Trotzdem unterstreicht diese Ausflucht nicht nur die Verworren- und Verworfenheit des Entführers, sondern trifft mit seiner Empörung über die Ungerechtigkeiten der Spekulation mit Grundnahrungsmitteln einen Nerv der Zeit.

Was vom Tatort „Machtlos“ bleibt

Man muss es den Machern des Tatort „Machtlos“ hoch anrechnen, dass sie die Anklänge auf den Fall Gäfgen wohl suchen, letzten Endes aber nicht zu dominant werden lassen. Eine so düstere Studie über Recht und Unrecht, Gewalt und potenzielle Gegengewalt so versöhnlich ausklingen zu lassen, gehört – was man momentan noch gut sagen kann! – zum Besten, was der Tatort 2013 zu bieten hat.

Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 5.5.

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