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Kommentatort 76: Tatort „Spiel auf Zeit“

Der neue Stuttgarter Tatort „Spiel auf Zeit“ beginnt als rasanter Actionfilm. Dann gleitet er in übliche Niederungen ab.

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Hey, hier kommt Volker. Der da so menschenaffengleich in der Tür des Gefangenentransporters steht, ist ein ebenso gefragter wie gefürchteter Bankräuber. Seine Kumpane befreien ihn, als Polizisten verkleidet. Sie schrecken bei der Raushole vor nichts zurück. Ein Beamter muss sterben, während der andere verwundet wird. Man kann sich ja ausrechnen, was für ein grosser Coup da geplant sein muss, wenn man zur Vorbereitung nicht einmal vor einer so grossen, wohl koordinierten Befreiungsaktion zurückschreckt.

 

Was tut ein Bankräuber? Banken überfallen? Banken gründen? Drohen, Banken pleitegehen zu lassen? Der Stuttgarter Tatort „Spiel auf Zeit“ zeigt den Königsweg aller Bankräuber. Weder Banken überfallen noch gründen noch abwickeln. Kinkerlitzchen. Der heutige Bankräuber klaut Banknotendruckplatten. Weil diese schwer bewacht werden, muss man sehr kaltblütig sein. Nur die besten Räuber schaffen es, so was zu klauen.

Wenn Polizisten Polizisten erschiessen

Ein Streifenpolizist winkt einen Gefangenentransporter an den Strassenrand. Der Beifahrer kurbelt das Fenster runter. Der Streifenpolizist will die Papiere sehen. Gibt es nicht? Stimmt: die Verkehrskontrolle unter Kollegen entpuppt sich als Gefangenenbefreiung. Ein Polizist kommt ums Leben. Die beiden Stuttgarter Kommissare Lannert und Bootz kommen zu spät. Noch ein kurzer, heftiger Schusswechsel und schon sind die Befreier samt einem Häftling namens Volker Zahn über alle Berge. Die Professionalität und Kaltblütigkeit, mit der die Befreiung vorgenommen wurde, ist beispiellos: Es stellt sich heraus, eine international operierende Räuberbande steckt dahinter. Bei Volker Zahn handelt es sich um einen Experten für Banken-Sicherheitssysteme.

Hafterleichterungen und Freigang

Lannert und Bootz bekommen Hilfe von unerwarteter Seite. Ein Gefangener, Viktor de Man, meldet sich aus dem Gefängnis. Er hat sachdienliche Hinweise. Im Austausch gegen Hafterleichterungen erklärt sich de Man bereit, den beiden Kommissaren unter die Arme zu greifen. Indem er wichtige Hinweise liefert, erschleicht sich de Man das Vertrauen von Lannert und Bootz. Er bekommt Hafterleichterungen. Er wird sogar, unter der Fittiche von Lannert und Bootz, freigelassen, damit er die Ermittlungen vorantreiben kann.

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Was für ein Spiel spielt der zwielichtige Gauner de Man (zweiter von rechts)? Will er den Kommissaren Bootz und Lannert tatsächlich helfen? Plant er nicht vielmehr seinen Ausbruch aus dem Gefängnis? Warum aber sollte er das tun, wo doch seine Haftstrafe in neun Monaten ohnehin abgesessen ist, wegen guter Führung? Kommissar Bootz (der mit dem nackten Finger auf den Gauner zeigt) traut de Man jedenfalls nicht über den Weg, wittert einen verborgenen Plan. Recht hat er! Warum er dann aber bloss den armen Kollegen mit dem durchtriebenen de Man alleine lässt, damit dieser auch ja unbedingt abhauien kann?

Uneingelöstes Versprechen

Was tut man nicht alles, um den Tatort in Richtung Actionfilm zu bewegen: Einerlei, ob auf den Strassen Wiens ein Bühnenblutbad angerichtet wird, in Geheimdienstmanier islamistische Anschläge vereitelt oder neue Ermittler in John-Rambo-Manier eingeführt werden – allenthalben wird dem Vorwurf vorgebeugt, der klassische Krimi tauge nicht mehr zur Sonntagabendunterhaltung. Auch in Stuttgart wummst es und rummst es, spätestens mit dem Tatort „Spiel auf Zeit“. Die Gefangenenbefreiung am Anfang ist beste Actionunterhaltung, der Rest zu einem beträchtlichen Teil verklemmtes Schielen auf hergebrachte Tatorthodoxien.

„Tatort“, nicht: „GZSZ“

Der Tatort „Spiel gegen die Zeit“ spielt mit den Erwartungen der Zuschauer: Ist der Gauner de Man verlässlich oder plant er seine Flucht? Was sind seine Beweggründe, um kurz vor seiner regulären Entlassung, Bootz und Lannert an der Nase herumzuführen? Auch auf der privaten Ebene der Kommissare werden Operationen an den Erwartungen der Zuschauer vorgenommen. Da ist dieser Blick von Kommissar Bootz, als er seinen Nebenbuhler konfrontiert: Der sitzt im Rollstuhl; die mit grosser Geste eingeleitete Abrechnung wird abgebrochen. Was soll man davon halten? Warum prügelt sich Bootz nicht trotzdem mit dem Nebenbuhler? Es ist die Achillesferse dieses Films. Das Privatleben von Bootz ist viel zu dominant. Man hofft, dass es damit in naher Zukunft weniger bunt getrieben wird. Neulich schon wurde Kommissar Lannert von seiner Flamme verlassen, was Sendezeit kostete und Zeit liess zum Popcorn holen. Es wurde bekannt, dass Bootz‘ Frau Krebs habe. Jetzt wird ihr Abgang beschleunigt, indem sie mit Bootz Schluss macht. Daran, dass auch künftig jeder Stuttgarter Tatort zu einem Drittel aus Trennungs-Schmerz und Scheidungs-Drohung bestehen soll, mag man gar nicht erst denken. Es heisst nicht von Ungefähr „Tatort“, nicht „GZSZ“.

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So viel „GZSZ“ war noch selten in einem Tatort. Fast müsste man den Tatort „Spiel auf Zeit“ aufgrund des hohen Privatleben-Anteils „GTST“ nennen. Während Bootz seinen Sohnemann mit einer Reise in die Staaten locken will, hadert sein Kollege Lannert mit dem Gauner de Man. Der wickelt ihn sogar dermassen um den Finger, dass er ihn schliesslich unbeaufsichtigt ziehen lässt, angeblich, um seine Tochter zu besuchen. Sogar die Handschellen nimmt Kollege Lannert ihm dazu ab. Ob er auch so blauäugig gewesen wäre, wenn Bootz nicht sosehr an der Heimatfront zerrieben worden wäre?

Anspielungen und verwackelte Bilder

Während in anderen Tatorten das Pendel zwischen Arbeit und Privatleben verlässlich zu Ungunsten des Letzteren ausschlägt, wird hier dem anderen Extrem gefrönt: Fast hat man den Eindruck, dass Bootz‘ Privatleben so raumgreifend ist, weil man sich nicht traute, an die Startvietelstunde anzuschliessen. Man versteht auch ohne minutenlange Schlussmachsequenzen, dass Bootz durch den Wind ist. Zur Unausgewogenheit kommen Ungereimtheiten. Warum hat Kommissar Lannert so viel Vertrauen in de Man – wo dieser ihn früher doch einmal umbringen wollte? Der Tatort „Spiel auf Zeit“ leidet unter skizzenhaften Anspielungen auf die Vorgeschichte von Lannert und de Man. Die paar Bilder, die wie Geister aus der Vergangenheit herantaumeln, die Lannert über zwei Leichen gebeugt zeigen, dieweil de Man im Hintergrund heranzottelt, hätten mehr ausbuchstabiert oder weggelassen werden können. Liesse man aber diese Vergangenheit als auch die Szenen aus Bootz‘ Privatleben weg, es bliebe kaum mehr als ein 50-minütiger Rumpf von einem Tatort.

Was vom Tatort „Spiel gegen die Zeit“ bleibt

Der Tatort „Spiel auf Zeit“ beginnt als überzeugender Actionfilm. Daa leidet er unter Unentschlossenheit und überbordendem Privatleben. An einer Neuausrichtung von Bootz ist nichts auszusetzen. Auch Lannert musste neulich Einschnitte im Privatleben erdulden. Dass man die Ausgangslage um die Räuberbande so mit privaten Querelen zukleistert, enttäuscht.

Note auf der «Wie-einst-Lily»-«Nie-wieder-frei-Sein»-Skala*: 4.5.

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